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Zur Geschichte - die Frage der Kontinuität

Festschrift zum 120-jährigen Bestehen des AThs (1993)

Von Dr. D. Stoltenberg (Schulleiter bis 1994)

Die kritische Beschäftigung mit 120 Jahren ATh, davon 25 Jahre in Stellingen, macht deutlich, wie stark historische Prägungen wirken, wie sehr sie daher auch in den Hintergrund (1933-1945) treten oder vielleicht sich auch ganz verlieren können.

Eine grundlegende Feststellung zuerst: Der Umzug nach Stellingen bedeutete einen gewaltigen Einschnitt in der Geschichte der Schule. Zudem: er fiel in das Jahr 1968! Die Ereignisse dieses Jahres und ihre umwälzenden Auswirkungen haben mehr und mehr - besonders auch durch eine neue Lehrergeneration - das Leben der Schule bestimmt und verändert. Die modernen Gebäude - verstreut im Grünen gelegen - sind von denen, die noch im "Grauen Haus vor dem Holstentor" unterrichtet haben, nie richtig angenommen worden. Dort befanden sich alle Schüler unter einem Dach. Alle Räume öffneten sich in drei Stockwerken zu dem mit Glas bedeckten Lichthof, einschließlich einer repräsentativen Aula. Von den Galerien schaute man in den großzügig gestalteten Lichthof; dort fand das Adventssingen statt, dort versammelte man sich, dort konnte man über die Klassengrenzen hinweg kommunizieren. In Stellingen gibt es einen solchen Konzentrationspunkt nicht. Die einzelnen Klassentrakte liegen verstreut im Gelände, die Wege sind weit. Und die architektonisch und akustisch (!) mißlungene Pausenhalle ist - wenn überhaupt - nur ein schwacher Ersatz. Vom früher oft beschworenen Albrecht-Thaer-Geist durfte man bald in Stellingen nicht mehr sprechen - er schien sich verflüchtigt zu haben. Im alten Gebäude wurde er noch oft beschworen, wenn auch dort bereits nicht selten mit ironischem Unterton - man gewann Distanz; dann ein Bruch?

Wäre es da nicht konsequent gewesen, den Namen der Schule zu ändern in: Gymnasium am Wegenkamp?
Wer war Albrecht Thaer überhaupt? Welche Schule heißt schon nach einem Schulmann, einem früheren Direktor gar? Vor 70 Jahren erhielt sie diesen Namen: THAER-OBERREALSCHULE vor dem Holstentor, bald nach dem Tode Thaers anläßlich der 50 Jahr-Feier - gegen Ende des Krisenjahres 1923.

Die Hamburger Nachrichten vom 16.10.1923 vermelden u.a.: "Die Oberrealschule vor dem Holstentore veranstaltete in ihrem Festsaal eine schlichte Feier zur Erinnerung an die Eröffnung der ersten Realschule in Hamburg vor dem Holstentore vor 50 Jahren ... Auf dem mit Grün geschmückten Podium waren die Bilder der beiden bedeutenden Leiter der Anstalt, der Professoren Redlich und Thaer aufgestellt. Nach einem Orgelvorspiel ... hielt der Schulleiter Dr. Thedens eine längere Festansprache. ...
Er führte aus, wie sich aus der Aufklärung heraus die vom Nützlichkeitsgedanken getragene Realschule entwickelte zur Vorbereitung auf das praktische Leben. Nach mancherlei Wandlungen und Kämpfen, und nachdem auch dem wissenschaftlichen Streben mehr Spielraum eingeräumt wurde, sei dann, 1901, wenigstens äußerlich die Gleichberechtigung der Oberrealschule mit dem Gymnasium und Realgymnasium anerkannt ... Die Schule habe zuerst die praktischen Übungen in den naturwissenschaftlichen Fächern eingeführt. Selbsttätigkeit und Anschauung seien besonders in der Oberstufe notwendig. Man gehe von dem Gedanken der Schätzung der jugendlichen Persönlichkeit und der sozialen Solidarität aus."

In diesen Auszügen klingt an, was die Schule auszeichnete: Unaufdringlichkeit, Betonung der Anschaulichkeit, der praktischen Selbsttätigkeit, die "Schätzung der jugendlichen Persönlichkeit" und die "soziale Solidarität"!

Die Geschichte der Schule im einzelnen spiegelt einen Gutteil der von Reformbestrebungen gekennzeichneten Entwicklung des "höheren" Schulwesens in Hamburg wieder, vor allem bis zum Jahre 1933. Die Schule war insbesondere unter ihren Direktoren Thaer (1896-1920) und Thedens (1922-1933) an der Neugestaltung führend beteiligt.
Ihre Geschichte läßt sich in 6 Phasen unterteilen und kann hier nur schlaglichtartig beleuchtet werden. Für die Zeit bis 1968 handelt es sich vor allem um Auszüge aus einer Schulgeschichte von Dr. A. Winter (Schulleiter von 1943 bis 1950) und aus der Festschrift von 1968 zum 90-jährigen Bestehen des Schulgebäudes vor dem Holstentor, das man nun verlassen mußte.

Dr. A. Winter, 1899 eingeschult, ab 1909 Lehrer an der Schule und ab 1943 bis zu seiner Pensionierung 1949 ihr Schulleiter, hat in 14 Fortsetzungen ab 1942 eine Schulgeschichte geschrieben - zunächst in Feldpostbriefen veröffentlicht, als die Herausgabe von Schulzeitungen verboten war, dann in der Holstentorwarte bis 1950 - also über das Ende des Krieges hinaus - der schweren Neuanfang eingeschlossen. Dieses Werk verdient eine besondere Würdigung. 


 

1873 - 1896

Im Sommer 1873 beschlossen Senat und Bürgerschaft, die neue höhere Bürgerschule, die die erste dieser Art in Hamburg war, in der Neustadt zu gründen, weil es damals in diesem Stadtteil keine höheren Privatschulen gab und weil als Einzugsgebiet für die neue Schule die Vorstadt St. Pauli eingeplant werden konnte.

Am 13.10.1873 wurde die Höhere Bürgerschule in gemieteten Räumen eines Hauses in der Poolstraße, in der Nähe des Holstenplatzes, eröffnet. Zum Leiter der Schule, die zunächst von 91 Schülern besucht wurde, war Professor Dr. Redlich ernannt worden. Die Schülerzahl wuchs schon in den nächsten Jahren auf über 300 an; daher mußten einige Klassen in einem Gebäude "Bei den Kohlhöfen" untergebracht werden. Und 1877 siedelte die Schule nach dem Lombardgarten in ein neues Volksschulgebäude um.

Erst fünf Jahre nach der Gründung, am 14.10.1878, erhielt die Höhere Bürgerschule ihr eigenes Haus vor dem Holstentor, auf dem dreieckigen Platz zwischen der Karolinenstraße, der Glacischaussee und dem Weg bei den Kirchhöfen.

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1896 - 1920

Unter Prof. Dr. Albrecht Thaer (geb. 13.4.1855), der 1896 als Nachfolger von Dr. Redlich mit der Leitung der Höheren Bürgerschule vor dem Holstentor betraut worden war, wurde die sechsstufige Realschule zu einer Oberrealschule erweitert. Albrecht Thaer sah seine Aufgabe vornehmlich darin, durch die neue Schule zu beweisen, "daß es einen vollgültigen und ebenbürtigen Bildungsgang ohne Latein gibt". Die größere Bedeutung, die der mathematisch-naturwissenschaftliche Unterricht an der Oberrealschule im Vergleich zum humanistischen Gymnasium erhalten sollte, entsprach den bildungspolitischen Reformbestrebungen der Jahrhundertwende.

Im Mathematikunterricht sollte das Arbeitsfeld durch Verzicht auf traditionellen Ballast und einseitige, praktisch bedeutungslose Kenntnisse für die Behandlung moderner Aufgaben freigemacht werden. Im einzelnen bedeutete dies, die euklidische Geometrie nicht mehr einseitig zu bevorzugen; die Infinitesimalrechnung, die darstellende und die analytische Geometrie wurden in den Lehrplan aufgenommen, um das räumliche Anschauungsvermögen und das funktionale Denken besser zu schulen. Im Physikunterricht sollten nicht länger fast ausschließlich mathematische Entwicklungen nachvollzogen werden, Physik sollte vielmehr auch in der Schule als Naturwissenschaft betrieben werden, und zwar so, daß sie als Vorbild für die Art dienen könne, wie in den Erfahrungswissenschaften überhaupt Erkenntnis gewonnen wird: Versuche und Überlegungen ergänzen einander. Durch planmäßig geordnete Übungen sollten die Schüler dazu angehalten werden, einfache Vorgänge selbst genau zu beobachten und messend zu verfolgen.

Mit der Umwandlung der Realschule in eine Oberrealschule wurden auch die Ziele der fremdsprachlichen Schulung verändert. Albrecht Thaer konnte seinen Kollegen Prof. Dr. Wendt ermuntern und fördern, den Unterricht in den Fremdsprachen neu zu gestalten. - Eine Würdigung Wendts folgt in einem besonderen Beitrag dieser Schrift.

Aus den Erfahrungen, die in den ersten Jahren gemacht worden waren, ist für die Oberrealschule vor dem Holstentor ein Lehrplan entworfen worden, den Albrecht Thaer nach zahlreichen Fachberatungen in den Jahren 1902 und 1903 zusammengestellt hat. Die knappe, vorsichtig neutrale Fassung der Lehrpläne ließ seinen Kollegen einen großen Spielraum für die praktische Erprobung. Die Zustimmung durch die Behörde bedeutete zugleich die Anerkennung für die an der Oberrealschule geleistete Reformarbeit.

Die Oberrealschule hatte die Aufgabe der Höheren Bürgerschule behalten. Die meisten ihrer Schüler verließen die Schule nach sechsjährigem Besuch als "Einjährige", mit dem Zeugnis der Reife für den einjährigen Militärdienst. Die Abiturienten der Oberrealschule wurden zunächst nicht von allen Fakultäten der Universität zum Studium zugelassen, obwohl ein Erlaß des preußischen Kultusministers vom 26.11.1900 bestimmte: "Bezüglich der Berechtigung ist davon auszugehen, daß Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule in der Erziehung zur allgemeinen Geistesbildung als gleichwertig anzusehen sind ... Damit ist zugleich der beste Weg gewiesen, das Ansehen und den Besuch dieser Anstalten zu fördern und so auf größere Verallgemeinerung des realistischen Wissens hinzuwirken."

Nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges übernahm Prof. Dr. Doermer stellvertretend für Albrecht Thaer, der zum Kriegsdienst einberufen worden war, die Leitung der Schule. Prof. Doermer reformierte den Chemieunterricht. Er war von 1931 bis 1933 Landesschulrat.

Wie an anderen Schulen in Deutschland hatten sich die meisten Oberprimaner der Oberrealschule vor dem Holstentor als Kriegsfreiwillige gemeldet. Allen wurde nach vorverlegter und vereinfachter Prüfung die Reife zugesprochen. (Zu ihnen gehörten Fritz Höger, der Erbauer des Chilehauses in Hamburg, und der niederdeutsche Schriftsteller Gorch Fock.)

Zeugnisse für die vaterländische Begeisterung jener Jahre sind auch die freiwilligen Ernteeinsätze, die Spenden und Sammlungen, die von Lehrern und Schülern durchgeführt wurden.


 

1918 - 1933

Albrecht Thaer hat die Entwicklung, die zu einer neuen Gestaltung des Lehrbetriebes nach dem 1. Weltkrieg führte, nur noch in ihren Anfängen miterlebt.

Bis 1918 stand die Schule unter direktorialer Leitung. 1919 wurde das Direktoriat in allen Schulen Hamburgs durch den Arbeiter- und Soldatenrat, der vorübergebend die Regierungsgewalt ausübte, abgeschafft. Das 1920 erlassene "Selbstverwaltungsgesetz" sah eine gemeinsame Verwaltung der Schulen durch Elternrat und Lehrerkollegium vor. Während die Lehrer die Erziehungs- und Lehrarbeit in der Schule nach den Bestimmungen der Oberschulbehörde durchzuführen hatten, sollte der Elternrat (zu dem der Schulleiter, zwei gewählte Lehrer und neun gewählte Vertreter der Eltern gehörten) die Beziehungen zwischen Schule und Elternhaus pflegen, "für das körperliche, geistige und sittliche Wohl der Jugend wirken". Der Elternrat konnte zu seinen Beratungen Vertrauensschüler heranziehen, die aus Wahlen in den Klassen hervorgegangen waren. Die Vertreter der Schülerschaft durften im Elternrat Anträge stellen. Der Schulleiter, für drei Jahre gewählt, führte als Erster unter Gleichen den Vorsitz bei Lehrerkonferenzen.

Sozialpädagogische Gründe haben nach dem 1. Weltkrieg zur Schulheimbewegung geführt. Um der unterernährten Jugend der Schulgemeinde (aus dem Bezirk Neustadt - St. Pauli - Hafen) Erholung bieten zu können, gründeten Eltern und Schüler den "Gemeinnützigen Verein Schulheim Oberschule Holstentor e.V." Aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Verlosungen, Aufführungen wurden die Mittel aufgebracht, mit denen bedürftige Kinder unterstützt wurden, so daß alte Schüler einmal im Jahr ein Landheim besuchen konnten.
   Im Jahr 1922 konnte der Verein den Wunsch seiner Mitglieder erfüllen, ein eigenes Schullandheim zu besitzen. Das Grundkapital für den Kauf des Heimes Hoisdorf wurde durch "Anteilscheine", die unverzinslich waren und später in den meisten Fällen dem Verein geschenkt wurden, von Eltern und Gönnern der Schule aufgebracht.

Das 1856 erbaute Landhaus in HOISDORF bei Ahrensburg/Kreis Stormarn ist ein echtes Holsteiner Vollhufner-Bauernhaus, einst der Schulzenhof des Dorfes. Das Schullandheim war nicht allein Pflegestätte für erholungsbedürftige Schulkinder; seiner Tradition gemäß wußte es sich der Aufgabe verpflichtet, zur Gemeinschaft zu erziehen. Dr. Heinrich Sahrhage, der Gründer, Gestalter und langjährige Leiter des Schullandheims, hat sich bemüht, die sozialpädagogischen Überlegungen aus der jeweiligen Zeit zu entwickeln, um auf diese Weise die Schullandheimbewegung lebendig zu erhalten. Von 1933 bis 1945 stellte diese sich in den Dienst nationalsozialistischer Erziebungsziele. Der Schulverein wurde 1933 "nach dem Führerprinzip" neu organisiert.


 

1933 - 1945

"Der Umbau im Schulwesen, der 1920 mit der Einführung der Selbstverwaltung begann, ist eigentlich erst mit der Schulreform von 1928 zum Abschluß gekommen. Diese Reform ist an der Oberrealschule vor dem Holstentor unter ihrem gewandten und rührigen Schulleiter Dr. Thedens durchgeführt worden, und sie hätte mit ihrem für alle vernünftigen Bestrebungen aufgeschlossenen Geist das schulische Leben zweifellos reich befruchtet, wäre nicht schon damals durch politisch radikale, schulfremde Kräfte eine ständig zunehmende Unruhe in die Schülerschaft und damit in die Schule getragen worden ... Die politische Neugestaltung hat das Kollegium veranlaßt, im Frühjahr 1933 noch einmal in dem inzwischen aussichtslos gewordenen Kampf um die Selbstverwaltung Stellung zu nehmen. 'Es bekennt sich', heißt es in einem Konferenzbeschluß vom 18.3.1933 ,'nach wie vor zu dem Grundsatz der Selbstverwaltung. Sollte die Selbstverwaltung aber fallen, so sollte seiner Meinung nach in die leitende Stellung berufen werden, nur wer das Vertrauen des Kollegiums genießt.' Nach einer unerquicklichen, aber notwendigen und klärenden Auseinandersetzung, bei der das Vertrauen in die bisherige Leitung ebenso zum Ausdruck kam wie der Wunsch nach Gleichschaltung mit der autoritären Schulverwaltung, entschloß sich das Kollegium zu einer Neuwahl. Die Wahl fiel auf Studienrat Kärner, der der nationalsozialistischen Partei angehörte.

An seine Stelle trat wenig später, durch die Landesunterrichtsbehörde berufen, Dr. Bruno Peyn. Damit wurde die als betont liberal bekannte Schule mit der neuen autoritären Schulverwaltung äußerlich gleichgeschaltet. Daß es auch innerlich geschehen müsse; darüber hat Dr. Peyn keinen Zweifel gelassen, als er erklärte, daß die Schule ein Organ des nationalsozialistischen Staates sei, der ihr nach seinen erzieherischen Bedürfnissen und staatspolitischen Zwecken Richtung, Ziel und Inhalt geben müsse, und hinzufügte, daß sie sich nun in ihrer stillen Arbeit als Bildungsmittel für den Intellekt, als Erziehungsmittel für den Willen, als Bindemittel für eine neue völkische Gemeinschaft bewähren müsse, in der jedem Glied die Pflicht zur selbstbeherrschten Einordnung unter die Zwecke der Gesamtheit auferlegt sei." (A. Winter)

Der o.a. Konferenzbeschluß kurz vor dem Ermächtigungsgesetz ist bemerkenswert. Eine Mehrheit bekundete damit ihr Vertrauen gegenüber der Weimarer Schulverfassung!

Die Zeit des 3. Reiches ist bisher wenig beachtet worden und bedürfte einer ausführlichen Darlegung. - Die kritische Lektüre der Holstentorwarte aber macht bereits deutlich, wie schnell die Gleichschaltung erfolgte. Welche Tiefenwirkung sie im Kollegium hatte, das durch gezielte Umsetzungen auf die neue Linie gebracht werden sollte, ist schwer auszumachen. Das erste Heil Hitler befindet sich in der Ausgabe zum 60-jährigen Jubiläum im Oktober 1933 - in einem beklemmenden Zusammenhang. Der Leitartikel des neuen Schulleiters endet: ... "Unseren Kindern wieder ein Vaterland zu geben, war das redliche Bemühen der Besten unseres Volkes; diesem Vaterlande hinfort unbeirrbare Träger des neuen großen Gedankenguts nationalsozialistischer Weltanschauung zu geben, muß das Ziel unserer Schulmannsarbeit sein. Die Thaer-Oberrealschule vor dem Holstentore wird mithelfen und damit weiterwirken im Geiste eines Albrecht-Thaer! Heil Hitler! Dr. Bruno Peyn als Schulleiter."

An anderer Stelle wird der gerade verstorbene Linksliberale Gustav Wendt zitiert: "Wir haben von vornherein die Erziehung zu praktischer Tüchtigkeit mit der Erziehung zu wissenschaftlichem Denken verbunden, ... und der weitherzige Thaer hat diesen Geist immer begünstigt. ... Ja, der Genius Loci ist nicht totzukriegen. Wir haben mehr darauf gesehen, daß Lehrer und Schüler ihre Pflicht taten, als daß die Bande der äußeren Ordnung besonders straff gezogen schienen." Der den Toten ehrende Kollege schließt: "Ich möchte nur wünschen, der Genius Loci möge sich mit dem neuen Geist, der "betonten" Erziehung zum deutschen Menschen und zur deutschen Gemeinschaft so vermählen, daß der alte Recke (gemeint ist Wendt) von seiner neuen Heimat aus mit zufriedener Teilnahme auf die Stätte seines erfolgreichen Schaffens blicken kann."

Es schaudert den Leser, wie bedenkenlos die bedeutendsten liberalen Pioniere des ATh für die "Neue Zeit" vereinnahmt wurden! Auch die Durchsicht der Aufsatzthemen läßt erkennen, wie von heute auf morgen die Anpassung erfolgte.

Die Kriegsjahre haben schwere Verluste und Einbußen wie anderenorts auch gebracht. Darauf soll hier im einzelnen nicht eingegangen werden, so einschneidend diese Jahre auch gewesen sind; z.B. im Hinblick auf die Zusammensetzung des Kollegiums. Die Holstentorwarte berichtet immer wieder von der Kinderlandverschickung, vom Einsatz der Luftwaffenhelfer bei den Turmbatterien auf dem Heiligengeistfeld; es finden sich natürlich die Gefallenenmeldungen in hoher Zahl, Briefe aus dem Felde. Etliche von ihnen spiegeln in bestürzender Weise die Auswirkung einer rassistischen Propaganda und Erziehung wider.


 

1945 - 1968

Die 23 Nachkriegsjahre im Grauen Haus vor dem Holstentor begannen unter denkbar schlechten Bedigungen: Mit 14 Lehrkräften und etwa 330 Schülern konnte der Unterricht am 2.10.1945 nach fünfmaliger Unterbrechung wieder aufgenommen werden. Das Gebäude war zwar nicht zerstört, hatte aber Bombentreffer erhalten; vor allem die Sammlungsräume waren betroffen. Die Wehrmacht hatte dort Quartier gesucht und etliche Umbauten vorgenommen, das Gestühl war fast ganz abbanden gekommen - und 1945 war vom Staat nichts zu erwarten. Trotzdem begann der Unterricht wieder; er normalisierte sich erst in den 5Oer Jahren.

Der Beginn des Schuljahres 1951/52 brachte einen bedeutenden Einschnitt mit sich: Künftig sollten unter einem Dach Schüler der Volks-, Mittel- und Oberschule unterrichtet werden. Es sind verschiedene Gründe, die zur Einführung dieses von dem damaligen Schulleiter Th. Wulle vorgelegten CONCORDIA-PLANES geführt haben. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung wanderte aus den zum Teil zerstörten Gebieten der Innenstadt in die Randgebiete Hamburgs. Der Rückgang der Schülerzahl war so erheblich, daß man zum ersten Mal die Frage stellen mußte, ob nicht bei einem Andauern dieser Entwicklung der Fortbestand der Schule gefährdet würde.

Dabei war von Bedeutung, daß die gesellschaftliche Herkunft der Schüler weitgehende Beachtung fand. "Der Lage vor dem Holstentor - so heißt es in dem Memorandum, das dem Concordia-Plan zugrunde lag - entspricht die soziale Struktur der Schülerschaft. Sie entstammt dem Arbeiter- und Handwerkerstand, dem Stand der kleinen und mittleren Gewerbetreibenden und kaufmännischen Angestellten sowie der unteren und mittleren Beamten. Eine große Zahl von Schülern hat früher die Schule mit der mittleren Reife verlassen und sich kaufmännischen oder technischen Berufen gewidmet." Dieser Schulversuch einer additiven Gesamtschule mußte aber nach zehn Jahren aufgegeben werden. Er ist gescheitert am steten Rückgang der Schülerzahl.

1959 wurden unter der Leitung von Dr. Wilgalis der wirtschaftswissenschaftliche Zweig und gleichzeitig die Koedukation eingeführt. Dieser neue Zweig des Gymnasiums trat gleichberechtigt neben die bestehenden mathematisch-naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Züge. Zur Begründung des Schulversuchs schreibt Oberschulrat Dr. Wagner im Mitteilungsblatt der Schulbehörde: "Unsere heutige, durch wirtschaftliche und soziale Strukturwandlungen entscheidend veränderte Welt kann nicht begriffen werden ohne Kenntnis der elementaren ökonomischen und soziologischen Zusammenhänge und Verflechtungen. Wenn Bildung geistige Bewältigung von Wirklichkeiten ist, dürfen wir in unserer Zeit den wirtschaftlichen und sozialen Wertbereich nicht unberücksichtigt lassen."

Im Rahmen des sechs Wochenstunden umfassenden Kernfaches Wirtschafts- und Soziallehre wurden nun betriebs- und volkswirtschaftliche, rechtliche, politische und soziologische Sachverhalte in den Fächerkanon des Gymnasiums übernommen und mit den traditionellen Lehrfächern verbunden. Das bedeutete für die Albrecht-Thaer-Schule einen weiteren Abschnitt pädagogischer Pionierarbeit.


 

1968 - 1993

Die Schlußsätze der 68er-Schrift Das "Graue Haus vor dem Holstentor" lauten: Mit dem Schuljahr 1968/69 beginnt ein neues Kapitel der Geschichte unserer Schule. Nach den Plänen von Prof. Horstmann ist in Stellingen am Wördemannsweg / Wegenkamp ein großzügiger Gebäudekomplex entstanden, zu dem außer der Kreuzkirche auch der Neubau unseres Gymnasiums gehört. Möge dem Geist des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit an der neuen Stätte gleicher Erfolg beschieden sein wie bisher.

ATh Stellingen in Bau

Vor 20 Jahren - zum 100jährigen Geburtstag - formulierte der neue Schulleiter: "... zwar schmückt der Begriff 'Gymnasium' noch rund 80 'Höhere Schulen' Hamburgs, aber neben ihnen entwickelt sich die Gesamtschule; wieder sucht eine neue Schulform ihren Platz im gesamten Bildungsgefüge. Rund 40% eines Jahrgangs besucht heute die Beobachtungsstufe der Gymnasien oder der Gesamtschulen; das hat die Mobilisierung der Begabungsreserven erbracht. Zu Zeiten Thaers dürften es keine 3% gewesen sein."

Aber nicht allein statistische Daten signalisieren, welche Distanz zu 1873 besteht. Man braucht nur aus dem Gutachten der Oberschulbehörde dieses Jahres zu zitieren: "Der Zweck der Höheren Bürgerschule ist die Vorbildung für das bürgerliche Leben. Sie soll dem Schüler mit dem Abgang von der Schule eine abgeschlossene, auf das bürgerliche Leben berechnete Bildung geben."

Allein die Formulierung "eine auf das bürgerliche Leben berechnete Bildung" - damals hochmodern, mit liberalem Geiste erfüllt - reizt heute etliche Schüler spontan zum Widerspruch, denen das Bürgertum die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels ist, die lieber heute als morgen unser spätkapitalistisches System überwänden, das durch eine Schule dieser Art nur stabilisiert werde. Wenige weitere Andeutungen sollen genügen: Unsere Schule fühlt sich nicht blind der Tradition verpflichtet; täglich setzen sich Lehrer und Schüler mit ihr kritisch auseinander. Allerdings gestaltet sich eine solche Auseinandersetzung oft schwierig, weil gerade den oppositionellen Schülern die historische Perspektive abhanden gekommen ist, die eine differenziertere, wenn auch mühsamere Betrachtungsweise ermöglichte. Es ist eben beschwerlicher, aus den Entstehungsbedingungen beispielsweise unserer Schule das damals Fortschrittliche als solches anzuerkennen und weiter zu fragen, was davon Bestand haben könnte. Dabei soll keineswegs verhemlicht werden, daß unsere Welt sich gewaltig geändert hat und wir mit ganz neuartigen wirtschaftlichen, technischen, gesellschaftlichen, aber auch geistig-seelischen Herausforderungen konfrontiert sind, denen wir uns stellen müssen. Wieviel differenzierter muß Erziehung heute begriffen werden? Wir gestehen: Die Schule ist längst nicht mehr neben der Familie die einzige Erziehungsinstanz, aber ohne sie ist Erziehung auch nicht denkbar. Das Albrecht-Thaer-Gymnasium mit seiner oft gerühmten unverkrampften Arbeitsatmosphäre bietet nach meinem Urteil nach wie vor gute Voraussetzungen für ein Gelingen schulischer Erziehungsarbeit, und zwar trotz Lehrermangel, zu hoher Klassenfrequenzen und vieler anderer Unzulänglichkeiten.

Auch das ist bereits ein historisches Zeugnis! "Wieviel differenzierter muß Erziehung begriffen werden", heißt es z.B. dort. Diese Problematik hat sich - nicht nur für die Schule - in 25 Jahren noch gewaltig verschärft. Die Herausforderungen und Aufgaben in unserem "pädagogischen Tagewerk" sind immer schwerer zu bewältigen. Die Gründe hierfür sind sattsam bekannt. Das Kollegium des ATh bejaht seine Aufgabe, es resigniert letztlich nicht. Es lechzt allerdings nach kongenialer Ergänzung durch junge Kolleginnen und Kollegen. Unser Durchschnittsalter heute: 47 Jahre; unmittelbar nach dem Krieg: 52 Jahre - sollen wir wieder dahin kommen?

Das ATh hat sich der neuen Situation gestellt, wie sie sich nach dem 68er-Umbruch ergeben hatte. Die Auseinandersetzungen mit Schülern waren z.T. sehr hart; sie hinterließen bei einzelnen Lehrern deutliche Spuren. Im Vergleich zu anderen Schulen führten die Auseinandersetzungen aber nicht zu einer unversöhnlichen Dauerkonfrontation. Heute sehnen wir uns nach mehr Opposition einer inzwischen eher apolitischen Schülerschaft zurück?

Mit wachsender Schülerzahl (Höhepunkt 1982: ca. 920, als das ATh große Teile der Schülerschaft des Gymnasiums Stellingen, das in eine Gesamtschule umgewandelt wurde, bereitwillig übernahm und sich damit erhebliche organisatorische Probleme einhandelte!) wurde das ATh durch viele junge Lehrerinnen und Lehrer ergänzt, kritische und sozial engagierte, in der Mehrzahl eher linksorientierte, eine neue, gerechtere Gesellschaft im Auge.

Heftige Auseinandersetzungen über Erziehungsziele und -stile blieben nicht aus. Sie wirkten belebend und fruchtbar bis heute. Wie in früheren Zeiten hatten sich am ATh viele selbstbewußte Lehrerpersönlichkeiten zusammengefunden,viele auf eigenen Wunsch, oft nach der Referendarausbildung.

Die Auseinandersetzungen, z.B. um die Gestaltung von Friedenstagen, mehr noch um die richtigen pädagogischen Ansätze, haben dazu gezwungen, unsere tägliche Arbeit immer wie der neu zu überdenken und nicht in Routine zu verfallen - sicher nicht zum Nachteil unserer Schülerinnen und Schüler. Welche Schlüsse jeder für sich daraus zog, wurde trotz aller Rivalität respektiert. Die kritischen, z.T. harten Auseinandersetzungen sind auch 1993 nicht verstummt, aber moderater geworden. Sie haben das liberale Klima am ATh eher gefördert als gestört.

So haben sich nach einer Phase einer heilsamen Verunsicherung deutliche Veränderungen und neue Schwerpunktsetzungen ergeben. Ohne Frage gehört dazu ein offeneres, partnerschaftlicheres, vertrauensvolleres Lehrer-Schüler-Verhältnis.

In den letzten 25 Jahren hat es also - wie in den 95 Jahren vorher - ein stetes Bemühen darum gegeben, den Anforderungen einer sich auf den rasanten gesellschaftlichen Wandel einstellenden Schularbeit gerecht zu werden. Hieran ist der allergrößte Teil des Kollegiums aktiv bis heute beteiligt.

An Besonderheiten seien hervorgehoben:

1. Das ATh war das erste Gymnasium, das die Informatik als Fach etablierte; es hatte lange Zeit für Hamburg Pilotfunktion. Höhepunkt war eine erstaunlich genaue Wahlhochrechnung noch vor den elektronischen Medien bei den Bundestagswahlen 1980.

2. Das ATh hat sich, solange es möglich war, gegen die Einführung der neugestalteten Oberstufe NGO) gewehrt - in der immer stärker werdenden Gewißheit, daß seine Erziehungsarbeit durch das Kurssystem erheblich erschwert werde, daß darunter auch .sein natur- und wirtschaftswissenschaftlicher Schwerpunkt leiden müsse, daß sowohl durch die Segmentierung des Unterrichtsstoffes als auch durch die Verhinderung einer kontinuierlichen Arbeit mit einer festen Gruppe über 3 Jahre hinweg Entscheidendes beim Erlernen von Methoden, bei der Durchdringung des Stoffes, bei der Auseinandersetzung mit Grundfragen verlorengehe. Als das ATh trotz eines ablehnenden Konferenzbeschlusses 1977 gezwungen wurde, das System der NGO einzuführen, geschah dies von Anfang an in Kooperation mit dem Gymnasium Dörpsweg. Diese ist - aufs Ganze gesehen - von gegenseitiger Achtung und Fairness getragen und positiv zu bewerten: Wenn schon das Kurssystem verordnet wurde, so sollte es auch optimal genutzt werden können. So manche Leistungskurse, inzwischen auch Grundkurse, sind nur mit Schülern beider Schulen einzurichten gewesen. In dem Bestreben übrigens, dadurch mehr Motivation beim einzelnen Schüler zu erreichen, daß er entsprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen stärker bei der Auswahl seiner Fächer mitwirken kann, sind Erwartungen geweckt worden, die in der Realität zu häufig nicht erfüllt werden können. Enttäuschungen bleiben nicht aus. Leidtragende sind die Schüler und nicht zuletzt die Organisatoren in der Schule, die mit bitteren Vorwürfen konfrontiert werden. - Soviel zur Oberstufenreform, die natürlich nicht nur negtive Aspekte hat.

3. Seit etwa 10 Jahren beobachten die Lehrerinnen und Lehrer bei den vielen am Gymnasium angemeldeten Schülerinnen und Schülern (40% eines Jahrganges) eine zunehmende Konzentrationsschwäche und eine nachlassende Lernbereitschaft. Das ATh war wiederum das erste Gymnasium, das versucht, auf die dadurch bedingte Erschwerung des Unterrichts schülergerechte Antworten zu finden und bessere Lernerfolge zu erzielen, und zwar durch besondere, weniger lehrerzentrierte Formen des Unterrichts und eine kompaktere Stundenplängestaltung, zunächst in der Beoachtungstufe. Dabei wurde auf methodisch bereits Bewährtem aufgebaut, dieses verstärkt, systematischer eingesetzt und Neues enwickelt, um die Lernfreude zu stimulieren, die Selbsttätigkeit und Selbständigkeit zu fördern und den Schülerinnen und Schülern mehr und mehr Eigenverantwortung für den eigenen Lernprozeß zu übertragen. Die dosiert eingesetzten offeneren Formen des Unterrichts mit mehr - oft projektorientierter - Eigen- und Gruppenarbeit sind neben das Klassengespräch getreten, das nach wie vor der Lehrer führt. Er bleibt für das Gelingen des Unterrichts voll verantwortlich und muß die Lehrpläne erfüllen. Er behält seine Methodenfreiheit. Er selbst setzt die Akzente - von Lehrer zu Lehrer, von Klasse zu Klasse, auch von Fach zu Fach unterschiedlich. - Dokmatisch läßt sich Unterricht ohnehin nicht gestalten. Auch birgt eine zu extensive Individuallsierung des Unterrichts nicht unbeträchtliche Gefahren für den Lern- und Sozialisierungsprozeß.

4. Seit 1978 gibt es am ATH ein Kommunikationszentrum, verkürzt auch Kantine genannt. Zunächst gedacht als Aufenthaltsraum für die Oberstufenschüler mit ihren häufigen durch das Kurssystem bedingten Freistunden, in denen sie sich regenerieren und verpflegen können, bietet es inzwischen den Schülern aller Stufen diese Möglichkeit dank des selbstlosen Einsatzes vieler, vieler Mütter und einzelner Väter und Großmütter, die diese schwere Aufgabe ehrenamtlich versehen - auch für die Mitglieder des Kollegiums übrigens. Trotz mancher Beschwernisse und Mißtöne - allzu schnell wird heute als selbstverständlich in Anspruch genommen, was längst nicht selbstverständlich ist - hofft das ATh auf den Bestand dieser segensreichen Einrichtung, getragen von einer hohen sozialen Verantwortung der Eltenschaft, die nicht genug betont werden kann.

5. Im Jahre 1986 hatte das ATh plötzlich nur noch 50 Anmeldungen für seine 5. Klassen. Der Schülerschwund schlug auch deshalb so hart zu, weil die inzwischen ringsum neu entstandenen Gymnasien plötzlich die bei ihnen angemeldeten Schüer selbst unterbringen konnten, während vorher etliche ans ATh umgeleitet wurden. Denn das unmittelbare Einzugsgebiet ist - beute erst recht - von verhältnismäßig wenigen Familien mit Kindern bevölkert. Insofern standen unsere besonderen pädagogischen und organisatorischen Bemühungen mehrere Jahre unter einem existenziellen Druck - das soll nicht verschwiegen werden. Aber auch in dieser Situation bewies das ATh seinen Lebenswillen: Das Einzugsgebiet hat sich deutlich erweitert, die Anmeldezahlen sind wieder gestiegen, die im Hinblick auf die Wahlmöglichkeiten in der Oberstufe angestrebte Zahl von 90 ist allerdings bisher nur einmal erreicht worden.

6. Um das ATH im Stadtteil Stellingen besser zu verankern und den Bekanntheitsgrad dort zu steigern, hatten Lehrerinnen und Lehrer des ATh eine Vortragsreihe ins Leben gerufen: „Schule Aktuell". Was Schule heute bewegt und thematisiert, wurde interessierten Eltern und Stellingern vorgestellt, auch von Schülergruppen. Wenn auch das Echo hinter den Erwartungen zurückblieb, so muß es das Interesse des ATh bleiben, seine Präsenz immer wieder einer breiteren Stellinger Öffentlichkeit in diesem leider sehr amorphen, von brutalen Verkehrsadern durchschnittenen Stadtteil zu dokumentieren. Dem dient auch seit 1987 eine Broschüre „Das ATh stellt sich vor", die damals von benachbarten Gymnasien scheel angesehen und als unlauter gebrandmarkt wurde. Der aufbrechende Konkurrenzkampf zwischen den Schulen und Schulformen gebört in diese Phase der Schulgeschichte. Das ATh war von ihm besonders betroffen. Auch ohne die Gefahr einer Schließung der gerade für etliche Millionen grundüberholten Schule bleiben die pädagogischen Herausforderungen groß genug, um in den Anstrengungen für eine gute Schule nicht nachzulassen.

7. In diesen Zusammenhang gehört z.B. ebenfalls der Schüleraustausch mit den Partnerschulen Collège Delessert in Saumur/Frankreich seit 1977 und mit der City of London School/Engiand seit 1989, mit dem Gymnasium 248 in St. Petersburg 1991/92.

8. Unter dem Motto „Augen auf am ATh" hat 1993 das Kollegium beschlossen, ein Sozialpraktikum einzurichten, denn die Probleme (Verpflichtungen!) rücken immer näher: Das Drogenelend, die verwahrlosten Großstadt-kids, irreparable Schäden in der Natur, die alten Menschen, die Obdachlosen, behinderte Menschen, Flüchtlinge ... Die Tendenz des Sich-einigelns, der individuellen Verinselung wird stärker, bis zum unmoralischen Zynismus oder zur gewaltsamen Abwehr. Mit den Problemen vielleicht, aber mit der Ignoranz kann unsere demokratische Ordnung nicht lange bestehen. Das Sozialpraklikum bildet einen Versuch, der Ignoranz entgegenzuwirken: Für die Dauer von zwei Wochen verlassen unsere Schüler in der Vorstufe das ATh und arbeiten in entsprechenden Institutionen, in der Hoffnung, daß die Schüler in der konkteten Arbeit nicht nur Erkenntnisse gewinnen, sondern auch sich (noch) mehr hineindenken in die Lebensschicksale anderer Menschen und die Verwundbarkeit ihres eigenen Lebens begreifen. Damit dies nicht aus heiterem Himmel fällt, haben wir ab Klasse 5 in jedem Jahrgang Projektage eingerichtet, in denen die Schüler altersentsprechend sich spielend, forschend, entdeckend mit diesen Aspekten unbekannten Lebens beschäftigen. Gerade auch das Sozialpraktikum entspricht dem, wie wir am ATh unser Selbstverständnis begreifen. Sowohl das soziologische Umfeld am Rande von St. Pauli als auch dasjenige in Stellingen erfordert Lehrerpersönlichkeiten, die in besonderer Weise bereit sind, die "jugendliche Persönlichkeit" als solche ernstzunehmen, ihre besonderen - oft auch sozial bedingten - Bedürfnisse und Nöte zu erkennen und ihr, nicht zuletzt im Sinne einer besseren Eröffnung von Chancengleichheit, entsprechende Zuwendung zu schenken und Förderung zukommen zu lassen. Wenn uns Lehrern gelingt, bei den Schülern das Gefühl des Akzeptiertwerdens zu vermitteln, wirkt dieses ohne Frage auch leistungsfördernd. Und darauf muß es uns als Schule - als Gymnasium zumal - ankommen. Denn Lernerfolg kann ohne die Entwicklung und Stärkung der Schülerpersönlichkeit nicht gelingen. Und: ohne ein - oft leider vergebliches - Bemühen darum, darf nicht "selektiert" werden. Bei den besonderen Anstrengungen um einzelne meist "schwierige" Schülerpersönlichkeiten stehen wir Pädagogen unter der allzu häufig leidvoll erfahrenen Spannung, andere vernachlässigen zu müssen, sie auch im schulischen Fortkommen nicht genügend fördern zu können. Allen Schülerinnen und Schülern einer Klasse gleichermaßen gerecht zu werden, ist ohnehin nahezu unmöglich. Die gesamte Lerngruppe muß aber in den sozialen Lernprozeß einbezogen werden, sie muß - natürlich nur innerhalb bestimmter Grenzen - Belastungen durch einzelne aushalten lernen und möglichst in ihrer "sozialen Solidarität" daran wachsen - eine Aufgabe, die heute ungleich schwerer zu bewältigen ist als jemals in den 120 Jahren zuvor. Ihr nicht ausweichen zu dürfen, gehört zum Selbstverständnis des ATh.

Also: Das ATh will kein Elite-Gymnasium sein und sieht seine Aufgabe nicht vordringlich darin, möglichst viele Abiturienten mit herausragenden Notendurchschnitten zu "produzieren", so sehr wir uns über jeden freuen, dem das gelingt. Außerdem: Das ATh hat eine Menge von ihnen.

Um in dem angegebenen Sinne erfolgreich sein zu können, legt das ATh Wert

  • auf eine unverkrampfte Arbeitsatmosphäre
  • auf Offenheit im Umgang miteinander; Streit um der Sache willen eingeschlossen
  • auf Achtung der Persönlichkeit des anderen, auch bei noch so heftigen Auseinandersetzungen
  • auf die praktische Ausübung sozialer Solidarität, auch über die Schulgrenzen hinaus
  • auf konstruktiv-kritische Begleitung aller am Gelingen unserer Arbeit lnteressierten
  • auf selbstkritische Überprüfung unserer Zielsetzungen und unseres Tuns.

Dieser Versuch, das Selbstverständnis des ATh zu umreißen, bedeutet zugleich vor allem für das Kollegium einschließlich der Schulleitung sichunter einen Anspruch zu stellen. Es bleibt die Frage:

  • Wieweit akzeptieren wir ihn?
  • Wieweit werden wir ihm gerecht?
  • Was bleiben wir schuldig?