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1896 - 1920

Unter Prof. Dr. Albrecht Thaer (geb. 13.4.1855), der 1896 als Nachfolger von Dr. Redlich mit der Leitung der Höheren Bürgerschule vor dem Holstentor betraut worden war, wurde die sechsstufige Realschule zu einer Oberrealschule erweitert. Albrecht Thaer sah seine Aufgabe vornehmlich darin, durch die neue Schule zu beweisen, "daß es einen vollgültigen und ebenbürtigen Bildungsgang ohne Latein gibt". Die größere Bedeutung, die der mathematisch-naturwissenschaftliche Unterricht an der Oberrealschule im Vergleich zum humanistischen Gymnasium erhalten sollte, entsprach den bildungspolitischen Reformbestrebungen der Jahrhundertwende.

Im Mathematikunterricht sollte das Arbeitsfeld durch Verzicht auf traditionellen Ballast und einseitige, praktisch bedeutungslose Kenntnisse für die Behandlung moderner Aufgaben freigemacht werden. Im einzelnen bedeutete dies, die euklidische Geometrie nicht mehr einseitig zu bevorzugen; die Infinitesimalrechnung, die darstellende und die analytische Geometrie wurden in den Lehrplan aufgenommen, um das räumliche Anschauungsvermögen und das funktionale Denken besser zu schulen. Im Physikunterricht sollten nicht länger fast ausschließlich mathematische Entwicklungen nachvollzogen werden, Physik sollte vielmehr auch in der Schule als Naturwissenschaft betrieben werden, und zwar so, daß sie als Vorbild für die Art dienen könne, wie in den Erfahrungswissenschaften überhaupt Erkenntnis gewonnen wird: Versuche und Überlegungen ergänzen einander. Durch planmäßig geordnete Übungen sollten die Schüler dazu angehalten werden, einfache Vorgänge selbst genau zu beobachten und messend zu verfolgen.

Mit der Umwandlung der Realschule in eine Oberrealschule wurden auch die Ziele der fremdsprachlichen Schulung verändert. Albrecht Thaer konnte seinen Kollegen Prof. Dr. Wendt ermuntern und fördern, den Unterricht in den Fremdsprachen neu zu gestalten. - Eine Würdigung Wendts folgt in einem besonderen Beitrag dieser Schrift.

Aus den Erfahrungen, die in den ersten Jahren gemacht worden waren, ist für die Oberrealschule vor dem Holstentor ein Lehrplan entworfen worden, den Albrecht Thaer nach zahlreichen Fachberatungen in den Jahren 1902 und 1903 zusammengestellt hat. Die knappe, vorsichtig neutrale Fassung der Lehrpläne ließ seinen Kollegen einen großen Spielraum für die praktische Erprobung. Die Zustimmung durch die Behörde bedeutete zugleich die Anerkennung für die an der Oberrealschule geleistete Reformarbeit.

Die Oberrealschule hatte die Aufgabe der Höheren Bürgerschule behalten. Die meisten ihrer Schüler verließen die Schule nach sechsjährigem Besuch als "Einjährige", mit dem Zeugnis der Reife für den einjährigen Militärdienst. Die Abiturienten der Oberrealschule wurden zunächst nicht von allen Fakultäten der Universität zum Studium zugelassen, obwohl ein Erlaß des preußischen Kultusministers vom 26.11.1900 bestimmte: "Bezüglich der Berechtigung ist davon auszugehen, daß Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule in der Erziehung zur allgemeinen Geistesbildung als gleichwertig anzusehen sind ... Damit ist zugleich der beste Weg gewiesen, das Ansehen und den Besuch dieser Anstalten zu fördern und so auf größere Verallgemeinerung des realistischen Wissens hinzuwirken."

Nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges übernahm Prof. Dr. Doermer stellvertretend für Albrecht Thaer, der zum Kriegsdienst einberufen worden war, die Leitung der Schule. Prof. Doermer reformierte den Chemieunterricht. Er war von 1931 bis 1933 Landesschulrat.

Wie an anderen Schulen in Deutschland hatten sich die meisten Oberprimaner der Oberrealschule vor dem Holstentor als Kriegsfreiwillige gemeldet. Allen wurde nach vorverlegter und vereinfachter Prüfung die Reife zugesprochen. (Zu ihnen gehörten Fritz Höger, der Erbauer des Chilehauses in Hamburg, und der niederdeutsche Schriftsteller Gorch Fock.)

Zeugnisse für die vaterländische Begeisterung jener Jahre sind auch die freiwilligen Ernteeinsätze, die Spenden und Sammlungen, die von Lehrern und Schülern durchgeführt wurden.